Ich habe lange geglaubt, Konflikte seien etwas ganz Natürliches. Etwas, das zum Leben gehört, weil Menschen nun einmal unterschiedlich denken, fühlen und handeln. Doch in letzter Zeit beginne ich zu spüren, dass diese Sichtweise nur die halbe Wahrheit ist. Immer öfter entdecke ich, dass die eigentliche Ursache eines Konflikts nicht im Außen liegt, sondern in mir – in meiner Bewertung dessen, was geschieht.
Ich merke, wie schnell ich reagiere. Ein Wort, ein Blick, ein Verhalten – und schon spannt sich etwas in mir an. Der Verstand springt sofort an, will recht haben, will verstehen, warum der andere so ist, will das Geschehen erklären oder verteidigen. Doch hinter all dem Lärm spüre ich etwas anderes: die leise Ahnung, dass es auch anders geht. Dass ich lernen kann, das Leben anzunehmen, ohne mich daran zu stoßen.
In den Momenten, in denen ich bewusst werde, erkenne ich: Das, was mich verletzt oder ärgert, ist nicht das Ereignis selbst, sondern mein Urteil darüber. Wenn jemand mich kritisiert, ist es nicht der Satz, der mich trifft – es ist der Gedanke, dass er nicht hätte gesagt werden dürfen. Und genau in dieser kleinen inneren Bewegung entsteht der Widerstand.
Ich beginne zu verstehen, dass das Leben selbst niemals gegen mich ist. Es zeigt mir nur, wo ich noch festhalte. Wo ich noch erwarte, dass die Welt sich meinem Willen anpasst. Und jedes Mal, wenn sie es nicht tut, entsteht Reibung. Der Konflikt ist also ein Spiegel. Er zeigt mir, wo ich noch nicht frei bin.
Das ist nicht immer angenehm zu sehen. Manchmal will ich lieber weiter recht behalten. Der Verstand fühlt sich sicher, wenn er jemanden oder etwas für schuldig erklären kann. Doch gleichzeitig merke ich, dass diese Sicherheit trügerisch ist. Sie trennt mich vom Frieden, nach dem ich mich eigentlich sehne.
Ich übe nun, wahrzunehmen, statt zu urteilen. Wenn ein Konflikt auftaucht, halte ich inne. Ich spüre in mich hinein und frage: „Was genau geschieht gerade in mir?“ Oft ist es nur eine alte Gewohnheit, ein vertrauter Gedanke, der automatisch reagiert. Wenn ich diesen Gedanken sehe, ohne ihn zu glauben, löst sich etwas. Die Situation bleibt dieselbe – aber mein innerer Zustand verändert sich.
Es fühlt sich an, als würde ich lernen, eine neue Sprache zu verstehen: die Sprache des Lebens selbst. Sie sagt mir nicht, wer recht oder unrecht hat, sondern zeigt mir, wo ich noch in Widerstand bin. Und wenn ich diesen Widerstand loslasse, bleibt nur Stille – nicht die Leere, die der Verstand fürchtet, sondern eine friedliche Weite, in der alles so sein darf, wie es ist.
Manchmal gelingt mir das nur für einen Moment. Dann falle ich wieder zurück ins alte Muster, reagiere, ärgere mich, verteidige mich. Doch inzwischen weiß ich: Das ist auch Teil des Lernens. Konfliktfreiheit ist kein Zustand, den man erreicht, sondern ein Bewusstseinsprozess. Jeder Augenblick, in dem ich mich erinnere, ist ein Schritt.
Ich beginne, den Unterschied zu fühlen zwischen Beobachten und Bewerten. Beobachten ist klar, still, gegenwärtig. Bewerten ist laut, eng und voller Emotion. Wenn ich beobachte, sehe ich die Situation so, wie sie ist – ohne Geschichte, ohne Etikett. Dann erkenne ich, dass das Leben gar nichts von mir verlangt. Es lädt mich nur ein, in Einklang mit ihm zu sein.
In manchen Momenten spüre ich, wie der Gedanke an Konfliktfreiheit mich fast überfordert. Es klingt so groß, so endgültig. Aber dann erinnere ich mich: Es geht nicht darum, nie wieder einen Konflikt zu haben. Es geht darum, in jedem Konflikt wach zu bleiben. Zu erkennen, dass er nicht gegen mich geschieht, sondern für mich – als Möglichkeit, zu wachsen, zu verstehen, zu lieben.
Langsam verstehe ich auch, was es heißt, „ohne Widerstand“ zu leben. Es bedeutet nicht, passiv zu sein oder alles hinzunehmen. Es bedeutet, das, was ist, zu sehen, ohne dagegen anzukämpfen. Aus dieser Akzeptanz entsteht eine neue Kraft – nicht die des Kampfes, sondern die der Klarheit. Wenn ich das, was ist, vollständig annehme, weiß ich plötzlich, was zu tun ist. Und das geschieht dann ganz ohne Druck.
Ich lerne also nicht, Konflikte zu vermeiden, sondern ihnen zuzuhören. Denn in jedem Konflikt steckt eine Botschaft – über mich, über das, was ich noch nicht verstehen will, über das, was in mir noch Heilung braucht. Je mehr ich das erkenne, desto stiller werde ich innerlich. Der Lärm des Urteilens wird leiser, und darunter taucht etwas auf, das ich Frieden nennen kann.
Vielleicht ist das der Anfang von wahrer Konfliktfreiheit: nicht mehr der Wunsch, dass alles harmonisch ist, sondern die Bereitschaft, alles zu fühlen, was ist – ohne davon überwältigt zu werden.
Ich übe weiter. Ich beobachte, wie das Leben mich lehrt. Und ich beginne zu ahnen, dass der Weg zur Konfliktfreiheit kein Weg hinaus, sondern ein Weg hinein ist – in das, was ich wirklich bin.
Wenn du magst, probiere es selbst. Beim nächsten Konflikt halte für einen Moment inne. Atme. Und frage dich: „Was in mir reagiert gerade?“ Vielleicht ist das der Moment, in dem der Konflikt seine Macht verliert und du beginnst, Frieden zu finden – mitten im Leben.
